6ter Januar
Ihr Kopf pochte unerträglich und sie hatte das Gefühl, dass ihr selbst eine Schmerztablette nicht lange Abhilfe schaffen würde. Als sie durch den Flur schritt fiel ihr Blick kurz in den Spiegel und sie stöhnte auf. Auch all das Make-Up hatte nicht viel genützt. Ihre Lieder waren stark verquollen und selbst ein Blinder würde bemerken, dass sie sich in der letzten Nacht die Augen ausgeheult hatte. Hoffentlich würde keiner ihrer Arbeitskollegen sie darauf ansprechen, aber vermutlich würde es niemanden auffallen. Sie fiel selten auf.

Als sie am frühen Nachmittag zurückkam, war er noch auf der Arbeit und sie war froh darüber. Den ganzen Tag hatte sie nicht an ihn denken müssen. Die Arbeit hatte sie abgelenkt, aber als sie schon auf dem Weg zur Straßenbahn gewesen war, kam der Gedanke wie ein dunkler Schatten zurück.
Noch nie war es ihr so unerträglich gewesen nach Hause zu kommen. Noch nie war es ihr so schwer gefallen.
Ihre Innereien krampften sich unangenehm zusammen und sie spürte, wie ihre Augen erneut feucht wurden. Noch nie hatte sie sich gewünscht, dass er nicht da sein sollte.
Stumme Tränen liefen ihr erneut die Wangen herab. Ihre Bewegungen waren automatisiert und ohne Leben. Das Dröhnen der Kaffeemaschine drang nicht an ihr Ohr. Zu stark war die Erinnerung.
Die Erkenntnis hatte so weh getan. Ein grauenhaftes Gefühl von Hilflosigkeit und Ungerechtigkeit. Warum war er so dermaßen furchtbar zu ihr? Was hatte sie getan, oder was war geschehen?
Sie hatte es schon lange vorher gespürt, aber nie wahrhaben wollen. Es war so schrecklich, so schrecklich ungerecht und es tat so unfassbar weh.
Sie zog einen Löffel aus der Schublade, goss sich Milch in den Kaffee und rührte geistesabwesend in ihrer Tasse.
Wann hatte sie sich das letzte Mal so elend gefühlt?
Sie begann schon wieder zu zittern und der Griff um ihre Tasse wurde fester. Wie einfach es sein konnte. Wie einfach es wäre, wenn sie nichts für ihn empfinden würde oder ihn wenigstens hassen könnte. Aber sie hasste ihn nicht. Sie liebte ihn. Abgöttisch. Und genau das war das Schreckliche daran.
Die Küchenuhr auf dem Kühlschrank tickte laut. Sie stand schon fast eine Stunde hier herum. Bald würde auch er nach Hause kommen.
Ein Stich in ihrer Brust.
Sie wollte ihn nicht sehen. Wollte nicht noch weiter gequält werden, doch eigentlich wollte sie eine Antwort. Eine Antwort auf die Frage, die sie die ganze Nacht wachgehalten hatte. Die sie nicht einschliefen und die immer wieder Tränen in ihren Augen aufsteigen ließ.
Fünf vor. Bald würde er kommen.
Sie schüttete den kalten Kaffee in die Spüle, räumte die Tasse in die Spülmaschine und eilte ins Esszimmer, wo sie Block und Stift an der Telefonstation fand und ging zurück in die Küche. Sie würde die Nachricht dort anbringen, wo er sie sicher finden würde: am Kühlschrank.
Es waren nur sechs kleine Worte, doch sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie zufrieden war.
Als der Magnet klackend an der Metalltür des Kühlschrankes haftete, hörte sie bereits, wie sein Wagen den Kiesweg hinauffuhr. Sie ergriff die Flucht, ohne sich umzudrehen. Ohne einen letzten Blick auf den kleinen, quadratischen Zettel zu werfen, der Stumm und emotionslos die Frage stellte, die sie so sehr schmerzte:


Der Wecker klingelte keine zwei Sekunden, da hatte sie ihn bereits ausgeschalten. Sie stahl sich leise, fast schon heimlich aus dem Bett, wie sie es jeden Morgen tat. Behutsam, um ihn nicht zu wecken, denn er konnte die Wärme ihres Bettes noch über eine Stunde genießen.
Sie schloss die Tür hinter sich und schlurfte ins Badezimmer.
Sie waren gestern einander nicht mehr begegnet. Ihr Haus war groß genug, dass man sich aus dem Weg gehen konnte. Immerhin hatten sie Platz gebraucht für die fünf Kinder, die sie gemeinsam hatten groß ziehen wollen.
Ihre Kehle schnürte sich zu und sie spürte erneut, wie heiße Tränen in ihr aufstiegen.
Das war bereits lange her. Zu einer Zeit, in der ihre Liebe noch auf Gegenseitigkeit beruht hatte. Gott, musste das lange her sein.
Sie widmete sich ihrer Morgentoilette und ging danach hinunter in die Küche, um sich eine Kleinigkeit für die Mittagspause zu machen und erstarrte.
Der Zettel am Kühlschrank würde ihr den Appetit für den restlichen Tag verderben. Sie sah auf die Entfernung, dass über ihre eigene Nachricht eine weitere gepinnt war. Sie konnte nur nicht erkennen, was darauf stand.
Das Herz in ihrer Brust pochte heftig, als sie näher ging. Die Buchstaben der krakeligen Schrift wurden immer deutlicher. Dort stand, und sie begriff zunächst nicht deren Bedeutung:

 

 

Der Tag war furchtbar gewesen.
Sie schloss die Aluminiumhaustür hinter sich und ließ sich gegen das kalte Metall fallen. Endlich konnte sie weinen. Endlich konnte all die angestaute Traurigkeit wie durch ein Ventil entweichen. Nun war es egal. Nun war alles egal.
Sie hatte gefragt und bekam eine Antwort. Die grauenvolle Befürchtung, all ihre Hoffnung mit einem kurzen Hammerschlag in tausend Scherben zerteilt. Nun hatte sie Gewissheit. Nun wusste sie Bescheid.

Wenn sie vor zwei Tagen dachte, die würde sich grauenvoll fühlen, dann hatte sie sich geirrt. Am liebsten wäre sie nicht aufgestanden. Am liebsten hätte sie sich krankschreiben lassen. Doch das hätte bedeutet, sie würde ihn sehen, sie würden sich Auge in Auge gegenüberstehen.
Alles in ihr wehrte sich dagegen. Sie wollte nicht noch mehr Leid, noch mehr Schmerz erfahren. Und so stand sie auf, quälte sich herunter um zur Arbeit zu gehen.
Doch bevor sie das Haus verließ pinnte sie einen dritten Zettel über die beiden anderen. Darauf stand nur ein schmerzvolles Wort:

 

 

Als sie an diesem Abend heimkehrte rannte sie ohne Zögern in die Küche. Den ganzen Tag hatte sie diese Frage verfolgt. Den ganzen Tag hatte sie nach Antworten gesucht, doch ihre Gedanken hatten sich im Kreis gedreht. Hatte er eine Affäre, eine neue Geliebte? War sie vielleicht schöner, besser im Bett oder gar jünger?
Unermüdlich hatten sie diese Gedanken gequält und als sie die Küche kam und den Zettel las, konnte sie die Worte darauf zunächst gar nicht glauben. Dort stand, mit blauem Kugelschreiber auf blassgelben Papier:

 

 

Wieder eine schlaflose Nacht. Eine Nacht begleitet von seiner regelmäßigen Atmung. Ließ ihn das alles tatsächlich so kalt? Hatte er seine Liebe vielleicht doch einer anderen Frau geschenkt?
Das würde seine emotionale Kälte erklären. Das würde erklären, warum er sie nicht mehr in den Arm nahm, ihr nicht mehr schmeichelnde Worte sagte oder Intimitäten mit ihr teilte.
Sie sehnte sich so sehr nach seiner Nähe, verzehrte sich vor Verlangen und vermisste seine Aufmerksamkeit. Er musste einfach eine andere haben.
Bevor sie sich zur Straßenbahn aufmachte ergänzte sie eine Notiz am Kühlschrank:

 

 

Sie konnte es einfach nicht verstehen. Viele Jahre waren an ihnen vorüber gezogen, seit ihrer ersten Begegnung und nach all diesen Jahren bekam sie noch immer dieses schummrige Gefühl im Bauch, wenn sie sich an diesen Tag erinnerte.
Er sah so verdammt gut aus, mit dem wild zerzausten Haar und dem lässigen Dreitagebart. Und wie er geduftet hatte!?! Sie sog automatisch die Luft ein, als sie sich daran erinnerte, bemerkte den skeptischen Blick von der Frau neben ihr gar nicht. Er roch kalt, wild und so angenehm männlich.
Sie erinnerte sich gut an sein charmantes Lächeln, dass sie zunächst kalt gelassen hatte. Doch der Augenblick hielt nicht lange an, denn mit seiner Herzlichkeit hatte er sie schnell erobert.
Von da an wusste sie, dass er der Mann ihrer Träume war. Er war derjenige, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte, mit dem sie alt werden wollte.
Die Straßenbahn hielt mit einem Ruck an und mit dem gleichen Ruck war sie wieder in der Realität.
Es war einfach nicht in Worte zu fassen, wie sehr sie diesen Mann liebte.
Als sie dieses Mal heim kam hatte sie Angst, große Angst sogar. Die Heimfahrt schien eine Ewigkeit gedauert zu haben und die ganze Zeit hatte sie dieses unangenehm, flaue Gefühl im Magen begleitet.
Sie ging langsam Richtung Küche.
Wollte sie überhaupt wissen, was dieses Mal auf dem Notizzettel stand? Würde das denn etwas ändern?
Sie zögerte einen Augenblick, doch dann fasste sie sich endlich ein Herz.
Die Notiz hing, wie erwartet, am Kühlschrank. Darunter in chronologischer Reihenfolge alle anderen.
Mit zittrigen Fingern zog sie, den diesmal gefalteten, Zettel unter dem Magnet hervor.
Es war eine Liste. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, doch sie zwang sich selbst diesen Brief von Anfang bis zum Ende zu lesen. Es waren Dinge, die sie sehr überraschten und denen sie größtenteils zustimmen musste. Es waren Worte, die sich in ihr Gedächtnis brannten, ohne dass sie es merkte:

 

 

Sie stutzte. Damit hatte sie nicht gerechnet. War sie wirklich so unausstehlich geworden? So verbitter, ohne dass sie es gemerkt hatte?
Fast ein wenig schockiert faltete sie seine Botschaft zusammen und entdeckte auf der Rückseite einen weiteren Satz:

 

 

Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie hatte sie sich nur so dermaßen ändern können, ohne es zu merken? Was hatte die Zeit aus ihr gemacht und warum war es ihr nicht schon viel früher aufgefallen?
Sie schämte sich plötzlich für all die Schuldzuweisungen. Sie schämte sich für ihr unausstehliches Benehmen und der Selbstgefälligkeit, mit der sie über ihn gerichtet hatte. Doch vor allem schämte sie sich dafür, dass sie ihm eine Affäre unterstellt hatte.
Der Schmerz in ihrer Brust tat fast körperlich weh.
Ein letztes Mal griff sie nach dem Kugelschreiber um ihre letzte Botschaft auf dem kleinen, quadratischen Zettel zu hinterlassen. Und dieses Mal war ihre Schrift ebenso krakelig wie seine:

 

 

Am nächsten Morgen ging sie nicht zum Kühlschrank, sondern verließ das Haus in aller Frühe ohne die Küche zu betreten, ohne die neue Nachricht zu lesen.
Als sie nach Hause kam war sie körperlich wie auch psychisch am Ende.
Zur Hölle nochmal, sie hatte mit der ersten Frage eine Lawine losgetreten und war unter ihr begraben worden. So taub und gefühllos, als steckte sie stundenlang unter den Schneemassen, fühlte sie sich tatsächlich.
Es war vorbei. Vorbei und Hoffnungslos. Sie bemerkte nicht, dass sein Auto bereits in der Einfahrt stand.
Sie ging in die Küche, nicht um nach einer Antwort zu sehen, sondern um sich den letzten Kaffee zu machen, bevor sie damit beginnen würde ihre Sachen zu packen.
Was sollte sie noch hier? Sie würde nie wieder glücklich werden ohne ihn, aber sie würde ihm die Chance einräumen und ihm nicht im Wege stehen.
Ihr Blick fiel auf den Kühlschrank und sie las seine Botschaft bevor ihr Kopf alles realisiert hatte:

 
 

 

Es war, als würde sie noch einmal in die Zeit zurückversetzt, als sie einander kennengelernt hatten. Es war fast so greifbar, dass sie glaubte sein kühles, herbes After Shave riechen zu können.
„Sollen wir noch einmal von vorne beginnen?“
Ungläubig sah sie auf. Ihr Herz machte einen Hüpfer.
Da stand er, in Abendgarderobe, hübsch, sexy und lässig wie an jenem Abend. Seine braunen Augen blickten ernst, doch ein Funken Hoffnung war darin.
Sie fühlte sich wie ein Teenager, die eine Einladung vom Mädchenschwarm für den Abschlussball bekommen hatte. Wie abgöttisch sie diesen Mann liebte und er war bereit einen neuen Versuch zu starten.
„Ja“, hauchte sie.
Ein Lächeln erschien auf seinen schmalen Lippen. Er reichte ihr den Arm und sie ergriff ihn mit klopfenden Herzen.
„Dann darf ich dich zu einem Drink einladen?“
„Gerne!“
Es waren dieselben Worte wie damals, doch dieses Mal sollte es ein besseres Ende nehmen.



Diese Seite wurde am 15.07.2015 eingestellt. Kontakt könnt ihr weiterhin über meine E-Mailadresse aufnehmen: l a d y _ a m a n z i a ( a t ) w e b . d e
 
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